Gemeinsam ein Netz knüpfen
Interdisziplinäre Projekte, das Einbeziehen ehemals Betroffener und die Ausbildung der nächsten Generation – Prim. Martin Aigner arbeitet mit seinem Team und den Kollegen intensiv an Verbesserungen für die Patienten.

Prim. Univ.-Prof. Dr. Martin Aigner ist Facharzt für Psychiatrie und Neurologie sowie Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapeutische Medizin. Martin Aigner promovierte 1992 in Wien. 2001 erhielt er das Ärztekammerdiplom Psychotherapeutische Medizin (PSY III, in Verhaltenstherapie) und habilitierte 2006 an der Medizinischen Universität Wien. Er ist Leiter der Ausbildungskommission der Österreichischen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie. Foto: Nadja Meister
Die meisten der jährlich 1.500 Patientinnen und Patienten kommen nur einmal im Leben zu einer Behandlung in seine Abteilung – wegen einer Depression, einer Angststörung oder einer substanzgebundenen Sucht zum Beispiel. Es tut ihnen und ihren Familien gut, „ganz normal“ ins Klinikum gehen zu können, wie mit einem gebrochenen Arm, sagt Prim. Univ.-Prof. Dr. Martin Aigner: „Eine psychiatrische Behandlung in einem allgemeinen Krankenhaus wird eher angenommen; Patienten und ihre Familien fühlen sich nicht mehr stigmatisiert.“
Der Facharzt für Psychiatrie und Neurologie sowie Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapeutische Medizin leitet seit 2011 die Erwachsenenpsychiatrie im Universitätsklinikum Tulln. Sie ist, wie alle sechs Erwachsenenpsychiatrien in den NÖ Landes- und Universitätskliniken, eine Sozialpsychiatrie – eine Abteilung, die alle Patienten der jeweiligen Region annimmt und damit die nötigen stationären Behandlungen für psychische Erkrankungen bietet.
Familien einbeziehen
Ruhig wirkt Aigner, freundlich und besonnen.
Einer, dem man sich gern anvertrauen würde, wenn es nötig ist. Der 1965 in Wels Geborene präsentiert Zahlen, die belegen, wie wichtig die Versorgung in einem allgemeinen Krankenhaus ist: Früher war die Psychiatrie dieser Region noch im Spezialkrankenhaus in Gugging untergebracht und in etwa für die gleiche Einwohnerzahl zuständig. Vergleicht man die Jahre 1998/99 (Gugging) und 2012/2013 (Tulln), so liegen die Aufnahmezahlen um 140 Prozent höher, berichtet Aigner. Nicht weil die Menschen damals weniger krank waren, sondern weil sie und ihre Familien die Behandlung nun besser akzeptieren können: Man ist krank und geht deshalb ins Klinikum. Punkt. Aigner plädiert für die wohnortnahe Versorgung, denn nur so könne die Familie der Betroffenen gut in die Behandlung einbezogen werden: „Beim Familiengespräch können wir den Angehörigen das Krankheitsbild verständlich machen und gemeinsam ein Netz für die Nachbetreuung spannen. So geht niemand verloren.“ Zwei Wochen dauert eine stationäre Behandlung in der Erwachsenenpsychiatrie in Tulln im Durchschnitt. Idealerweise folgt anschließend eine Rehabilitation bzw. die Weiterbetreuung durch einen niedergelassenen Facharzt und Psychotherapeuten. Doch weil hier die Wartelisten lang sind und die nötigen Kapazitäten oft fehlen, hat Aigner eine wichtige Übergangslösung im Klinikum installiert: ein Angebot für Gruppentherapie durch eine Psychotherapeutin, die sich im Klinikum eingemietet hat.
Die tagesklinische Behandlung besteht aus vier Wochen in der Tagesklinik, dann zwei Wochen „Generalisierungsphase“ zu Hause und anschließend sechs Wochen „Kernphase“ der Therapie in der Tagesklinik; Montag bis Freitag von 8 bis 16 Uhr wechseln sich Therapien und Ruhephasen ab. Ein möglichst bald anschließender Rehab-Aufenthalt bringt die nötige Stabilität für den Alltag.
Multidisziplinäres Team
Das multidisziplinäre Team der Abteilung besteht neben den 21 Fachärztinnen und -ärzten aus Musik- und Ergotherapeuten, einer Physiotherapeutin, Psychologinnen und Pflegekräften. Wichtige Teammitglieder sind für den engagierten Abteilungsleiter die derzeit bereits drei angestellten Experten aus dem Projekt EX-IN: Die ehemaligen Psychiatrie-Patienten unterstützen Betroffene dabei, einen individuellen Weg zu finden, wie sie mit der Erkrankung möglichst gut leben können. Tulln ist die Pilotklinik für das Projekt EX-IN, Aigner erhofft sich viel von dem neuen Berufsbild Genesungsbegleiter: „Diese Expertinnen und Experten sind enorm hilfreich für Betroffene, weil sie ihnen Perspektiven und Wege zeigen können und sie unterstützen.“
Die Abteilung sei immer zu über 90 Prozent ausgelastet, berichtet Aigner. Etwa 400 der jährlich 1.500 Patienten werden hier nach dem Unterbringungsgesetz betreut und versorgt. Die 21 Ärztinnen und Ärzte leisten für das Universitätsklinikum den Konsiliardienst in den Stationen der Inneren Medizin, der Chirurgie, Unfallabteilung, Gynäkologie und Neurologie und sichern psychiatrische Betreuung an somatischen Abteilungen. Für Aigner eine Win-win-Situation: „Es gibt Untersuchungen, dass an diesen Abteilungen jeder dritte bis hin zu zwei Drittel der Patientinnen und Patienten auch eine psychiatrische Thematik hat. Es ist wichtig, dass alle die Sicherheit haben, gut versorgt zu sein.“ Dadurch steige auch die Qualität in der Psychiatrie, ist der besonnene, freundliche Abteilungsleiter überzeugt.
Gleichzeitig biete die Vielzahl der Abteilungen im Haus auch seinen psychiatrischen Patienten die Möglichkeit, die Expertise der anderen Fächer zu nutzen, um rundherum gesund zu werden. Auch das Uniklinikum St. Pölten versorgen Tullner Fachärzte in Form eines Konsiliardienstes. Hier soll in den nächsten Jahren ebenfalls eine tagesklinische Versorgung entstehen, denn derzeit wird der Raum St. Pölten vom Landesklinikum Mauer versorgt.
Umfassende Schmerz-Hilfe
Wichtig ist dem erfahrenen Experten das Thema Deeskalations-Management: „In einer offenen psychiatrischen Abteilung, wie der unseren, brauchen wir das unbedingt. Wir haben dafür ausgebildete Trainer für Deeskalations-Management an der Psychiatrie, es finden regelmäßige Schulungen statt und zusätzlich wurde ein Deeskalationsalarm für das ganze Haus eingerichtet.“
Am Herzen liegt Aigner auch die Interdisziplinäre Schmerzambulanz, die seine Abteilung gemeinsam mit den Abteilungen für Anästhesie, Neurologie, Unfall und Orthopädie betreibt. Es gibt eine Schmerzkonferenz und eine Schmerzbewältigungsgruppe. Aigner wurde unter anderem mit dem Wissenschaftspreis 2007 der Österreichischen Schmerzgesellschaft ausgezeichnet und ist Teil des Interdisziplinären Fachbeirats von „Ismed“ – dem postgraduellen Universitätslehrgang Interdisziplinäre Schmerzmedizin an der Medizinischen Universität Wien.
Sehr bewährt habe sich auch ein Pilotprojekt zur Betreuung drogenkranker Mütter und ihrer Babys in Zusammenarbeit mit Neonatologie, Gynäkologie, Kinder- und Jugendpsychiatrie.
Schwerpunkt Ärzte-Ausbildung
Es gibt regelmäßige Teamsupervisionen. Etwas, das schon in der Facharzt-Ausbildung eine wichtige Rolle spielt. Sieben künftige Fachärzte bildet er derzeit in seiner Abteilung aus, im niederösterreichweiten Verbund mit den anderen Kinder- und Erwachsenenpsychiatrien in NÖ (siehe Kasten) sowie der Abteilung für Stationäre Psychotherapie in Tulln.
Und er arbeitet am Facharzt-Ausbildungscurriculum der Karl Landsteiner Privatuniversität für Gesundheitswissenschaften in Krems mit. Als
Mitglied des Fachsenats vertritt er dort das Universitätsklinikum Tulln.
Psychiatrische Versorgung in NÖ
Die Abteilung Erwachsenenpsychiatrie am Universitätsklinikum Tulln besteht seit 2007 (als Nachfolge von Maria Gugging) und versorgt als Akutpsychiatrie den Zentralraum Mitte-Nord mit 200.00 Menschen, und zwar Bezirk Tulln, Stadt Krems und Krems Land sowie Bezirk Wien-Umgebung: Purkersdorf, Klosterneuburg, Gerasdorf und Teile von Gänserndorf. Sie hat 60 Betten und zwölf Plätze in der Tagesklinik, leistet das gesamte stationäre Spektrum der psychiatrischen Akutversorgung und den Konsiliardienst für das Uniklinikum Tulln. Für das Universitätsklinikum St. Pölten übernimmt die Erwachsenenpsychiatrie Tulln an drei Tagen pro Woche eine Konsiliar-Versorgung. Hier soll eine Tagesklinik entstehen und in sechs Jahren auch eine eigene psychiatrische Abteilung; die Bevölkerung wird derzeit vom LK Mauer versorgt. Tulln bildet die künftigen Fachärztinnen und -ärzte für St. Pölten aus. Weitere Akutpsychiatrien gibt es in den Landeskliniken Mauer, Baden, Neunkirchen, Hollabrunn und Waidhofen/Thaya. Kinderpsychiatrien gibt es ebenfalls in Tulln, in der Hinterbrühl (LK Mödling) und im LK Mauer.





